Ullstein-Interview über die Hintergründe von "So weit die Störche ziehen":

Was oder wer hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?

Meine Eltern stammen aus Ostpreußen und mussten ihre Heimat wie so viele andere Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Ostpreußen, das war einerseits die Erinnerung an eine recht unbeschwerte, idyllische Kindheit, zum anderen aber natürlich auch die Erinnerung an die vielen schrecklichen Dinge, die später geschehen sind. Der Wunsch, etwas weiterzugeben von dem, was ich von meinen Eltern und Großeltern gehört hatte, war mein Antrieb und so erdachte ich mir Dora Twardy, ihre Familie und das ostpreußische Dorf Liebewalde...

Wie viel Wahres steckt in der Geschichte?

Die Handlung des Romans ist erfunden. Doch habe ich vieles von dem hineingewoben, was meine Eltern, Großeltern und andere Verwandte erlebt haben. So ist meine Mutter – wie Dora – auf einem Gestüt aufgewachsen, mein Großvater hatte eine Trakehnerzucht und sein wertvollster Hengst hieß tatsächlich Siegfried. Die grauenhafte Flucht über das Eis der Ostsee hat meine Familie damals mitgemacht. Ich weiß, dass meine Mutter ihr Leben lang Albträume hatte von den russischen Tieffliegern, die den Flüchtlingstreck beschossen. Und auch die Robinsonade nach ihrer Rückkehr auf den verlassenen Hof ist Teil ihrer Lebensgeschichte. Ich möchte mit meinem Roman dazu beitragen, die Erinnerung an all das, was meine Familie und so viele andere Menschen damals erlebt haben, wachzuhalten.

Was schätzen Sie an Ihrer Großmutter? Was schätzen Sie an Dora?

Die Menschen dieser Generation haben Furchtbares mitgemacht, meine Großmutter hat zwei Söhne im Krieg verloren, ihr Zuhause, ihr ganzes Hab und Gut. Trotzdem war sie keineswegs verbittert, sondern ein ganz warmherziger, liebevoller Mensch. Ich habe sie sehr dafür bewundert, wie sie trotz aller Schicksalsschläge ihre Zuversicht und den Glauben an das Gute im Menschen nie verloren hat. Dora steht in der Generation zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, in ihre Figur lasse ich von beiden Frauen etwas einfließen. An Dora schätze ich ihren Lebenswillen, den Mut und die Entschlossenheit, mit der sie Probleme angeht. Sie entwickelt sich von einem verwöhnten Mädchen zu einer Kämpferin, in einer schlimmen Zeit wächst sie über sich hinaus.

Für ihre Recherchen sind Sie in die Heimat Ihrer Familie gereist. Wie hat die Landschaft auf Sie gewirkt?

Ich bin vor einigen Jahren mit meiner Familie nach Polen, ins ehemalige Ostpreußen gereist. Die Landschaft ist atemberaubend schön: diese endlosen Wiesen und Felder, dieser ganz besondere Himmel, der höher zu sein scheint als anderswo, die vielen Störche, die Birkenalleen, die malerischen Seen. Besonders berührend war es, das Elternhaus meiner Mutter zu besuchen. Der Hof steht noch, wobei nun mehrere Familien dort wohnen. Meine Mutter hatte schon vor vielen Jahren Kontakt zu den Leuten aufgenommen, so dass wir dort herzlich willkommen waren – was für ein Geschenk nach dem Leid, das der Krieg verursacht hat! In der Küche waren sogar noch die Kacheln von damals an der Wand, mit dem Familienspruch über dem Herd, wie ich es aus Erzählungen meiner Oma kannte. Ich war zu Tränen gerührt.

 

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Gespräch mit der Bloggerin Claudias Bücherregal über "Der Freiheit entgegen":

 

Was fasziniert dich an den Sechzigerjahren?
 
Die Sechzigerjahre waren eine sehr spannende Epoche – und das schon lange vor den sogenannten „68ern“. Das gilt vor allem für uns Frauen: Immer mehr Mädchen drängten danach, einen Beruf zu haben, der sie ausfüllte und in dem sie Männern Konkurrenz machten. Mit frechen Miniröcken setzten sie ein selbstbewusstes Zeichen gegen traditionelle Frauenbilder, und die Pille ermöglichte ihnen ganz neue Freiheiten. Gleichzeitig begann es in vielen Familien zu brodeln, weil sich junge Leute zu fragten, wie es zu den Schrecken der Nazizeit hatte kommen können und sie stellten ihre Eltern zur Rede. Diese gesellschaftlichen Veränderungen interessieren mich, vielleicht auch deswegen, weil ich in diesem Jahrzehnt auf die Welt gekommen bin. In meinen Roman verwebe ich das alles zu einer bunten Geschichte um drei sehr unterschiedliche Freundinnen. An ihrer Seite möchte ich meine Leserinnen und Leser erleben lassen, wie es gewesen wäre, damals dabei zu sein.
 
Welche Rolle spielt die Recherche für deine Geschichten?
 
Bei der Schilderung der historischen Hintergründe arbeite ich so genau wie es geht. Deshalb nimmt die Recherche immer sehr viel Zeit in Anspruch, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Ich liebe es, in alten Büchern oder Zeitungen zu stöbern, mit Zeitzeugen zu sprechen oder mir Fotos und Filme von damals anzusehen und auf jedes Detail zu achten. Manchmal muss ich mich regelrecht bremsen, weil ich dabei ständig auf neue Ideen komme. Aber mir ist es wichtig, die Ereignisse möglichst realistisch darzustellen. Manchmal vergehen Stunden, weil ich eine Winzigkeit klären möchte: Gab es diesen oder jenen Autobahnabschnitt schon in dem Jahr, über das ich schreibe? Wie lange dauerte eine Zugfahrt von A nach B? Wieviel kostete damals eine Studentenbude? Eine Tasse Kaffee? Der Eintritt ins Kino? Etc. Solche Fragen tauchen auch während des Schreibens immer wieder auf, und ich gehe ihnen meist sofort nach. Die eigentliche Handlung und die wichtigsten Figuren sind allerdings fiktiv. Die Lektüre soll ja spannend und unterhaltsam sein, mit allen Emotionen, die einen Roman lesenswert machen.
 
Gibt es ein Kapitel, das du besonders gern geschrieben hast?
 
Ich liebe diese Geschichte natürlich vom ersten bis zum letzten Satz, aber die Szenen zu schreiben, in denen ich Clara an historischen Ereignissen teilnehmen lasse, war mir eine besondere Freude. Über den berühmten Besuch des US-Präsidenten Kennedy in Berlin im Sommer 1963 gibt es beispielsweise jede Menge Bild- und Tonmaterial, so dass ich sehr realistisch schildern konnte, wie es sich angefühlt haben mochte, inmitten der vielen Menschen zu stehen und seiner Rede zu lauschen. Und dann war es mir beim Schreiben ein großes Vergnügen, Clara und Sanni in Hamburg ein Live-Konzert der Beatles miterleben zu lassen. Da wäre ich tatsächlich sehr gerne mal in der Realität dabei gewesen ... Auf der anderen Seite handelt mein Roman auch von der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in Deutschland. Da stockt mir selbst immer noch der Atem, wenn ich die ein oder andere Szene lese, die ich über den Frankfurter Auschwitzprozess geschrieben habe, so bedrückend sind die Berichte der Zeugen und Zeuginnen. Ich habe mir Gerichtsprotokolle und Zeitungsberichte von damals angesehen, um genau schildern zu können, was dort verhandelt wurde und wie die Menschen in Deutschland darauf reagiert haben. Das ist keine leichte Kost, aber ich sehe es als meinen Auftrag als Autorin an, auch diesen Teil unserer Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.  
 
Der Roman „Der Freiheit entgegen“ ist der dritte Teil einer Familiengeschichte, der Gutsherrin-Saga. Muss man auch die ersten Teile gelesen haben, um die Handlung zu verstehen?
 
Nein, der Roman ist in sich abgeschlossen, er lässt sich auch gut lesen, ohne die anderen Teile zu kennen. Was man aus den vorangegangenen Geschichten wissen muss, füge ich ganz kurz und behutsam in die Erzählung ein. Aber es macht natürlich auch Spaß, beim chronologischen Lesen aller drei Romane die Entwicklung meiner Figuren mitzuerleben und zu verstehen, was sie zu den Menschen gemacht hat, die sie geworden sind. Jeder Roman spielt in einer wichtigen Epoche unserer Geschichte. Im ersten Teil „So weit die Störche ziehen“ geht es um den zweiten Weltkrieg und die Flucht der Familie Twardy aus Ostpreußen. Dazu wurde ich durch die Erlebnisse meiner Eltern und Großeltern angeregt, die mir viel von damals erzählt haben. In Teil zwei „Die Heimkehr der Störche“ schildere ich, wie diese Familie in den Fünfzigerjahren die deutsche Teilung erlebt. Die Handlung spielt hauptsächlich in Berlin. Im dritten und letzten Teil der Saga „Der Freiheit entgegen“ steht nun die nächste Generation im Mittelpunkt und erlebt die gesellschaftlichen Umbrüche in den Sechzigerjahren, wobei Hamburg – schon damals - einer der Hot-Spots in Deutschland war.

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